Ecological Grief, oder: das Unfassbare fassbar machen.

 

Englischsprachige Version hier >>

Dem Leben geht keine Einladung voraus. Man wird nicht gefragt: Hey, möchtest du auf die Welt kommen? Man ist irgendwann einfach da. So in die Welt geworfen erleben wir, wie die Jahre vergehen und wir vom Baby zum Kind, dann zum Jugendlichen und schließlich zum Erwachsenen werden. Dabei tickt nicht nur unsere Uhr, das vergessen wir gerne. Auch an den Generationen vor uns nagt der Zahn der Zeit.

Unsere Eltern und Großeltern zeigen erste Alterungserscheinungen, was sich immer irgendwie befremdlich anfühlt – meine Mutter ist in meinen Augen schon immer irgendwie um die vierzig, aber wenn ich die Augen ein wenig zusammenkneife, wenn ich innerlich Abstand nehme, ist sie es eben doch nicht mehr. Dasselbe gilt für meinen Großvater, dessen einst rabenschwarzes Haar grau geworden ist. Ich könnte nicht sagen, wann das passiert ist.

Das Leben fordert seinen Tribut, mehr und mehr. Mit der Zeit verlieren wir unsere Urgroßeltern, unsere Großeltern und schließlich, wenn alles seinen natürlichen Lauf nimmt, unsere Eltern. Eines Tages stehen wir auf und stellen fest, dass es keine Vorgänger mehr gibt.

„Endling“ ist ein unglaublich trauriges Wort, vielleicht das traurigste, das ich kenne. Es wurde 1996 von Robert M. Webster und Bruce Erickson vorgeschlagen, um Menschen oder Lebewesen zu bezeichnen, die die Letzten ihrer Abstammungslinie oder ihrer Art sind. Es ist ein Begriff, der nicht nur einen biologischen oder kulturellen Zustand beschreibt, sondern auch eine tiefe emotionale Bedeutung hat. Es verkörpert den finalen Moment am Rande des Aussterbens. Das Vorhandensein eines solchen Ausdrucks in unserer Sprache spiegelt die Anerkennung dieser Realität wider. Der Komponist Andrew Schultz schrieb eine Symphonie namens „Endling“, und verfasste dazu auf seiner Webseite den folgenden Text:

[Die Zeitung] Nature hat “Endling” als “das letzte überlebende Individuum einer Art oder Pflanze” definiert. Dieses Stück entspringt einem Gefühl des Bedauerns und der Trauer über all das, was von der Erde verschwunden ist. Wunderbar angepasste Pflanzen, Tiere und Gesellschaften, die alle nicht mehr existieren und ersetzt wurden durch was? Eine Welt der Hässlichkeit, der materiellen Besessenheit, des ständigen und sinnlosen Wandels und der abscheulichen “ Vermarktung “ von allem, von einer Symphonie bis zum Lächeln eines Kindes. (…).
— Andrew Schultz
 
 

 Biologische Vielfalt verstehen

Sprechen wir über Endlinge, sprechen wir über Artensterben, über Biodiversitätsverlust. Viele Menschen haben den Ausdruck "Biodiversität" schonmal irgendwie gehört, nicht zuletzt dadurch, dass in den Medien häufiger darüber berichtet wird (aber noch lange nicht genug, nein). Schauen wir in Pubmed nach, der größten Datenbank für biologische und medizinische Artikel, sehen wir, dass bis in die 1990er Jahre nur wenige Artikel zu diesem Thema veröffentlicht wurden. Es war noch gar nicht auf dem Schirm der Weltöffentlichkeit, niemand ahnte damals, was für ein Vulkan unter unserem Wirtschaftswachstum schlummert.

Als 1992 die UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio abgehalten wurde, änderte sich das. Zum ersten Mal wurde der Scheinwerfer auf Artenschutz und Nachhaltigkeit gerichtet, und danach schossen die publizierten Artikel über Biodiversität in die Höhe.

Dieser Begriff – Biodiversität, auch biologische Vielfalt genannt – beschreibt die gesamte Bandbreite des Lebens auf unserer Erde. Er umfasst nicht nur die Artenvielfalt, also die Anzahl unterschiedlicher Pflanzen, Tiere, Pilze und Mikroorganismen, sondern auch die genetische Variation innerhalb der Arten. Das bedeutet, dass verschiedene Individuen einer Spezies unterschiedliche Erbinformationen besitzen, die zu unterschiedlichen Eigenschaften führen können, die beim Überleben wichtig sein können.

Biodiversität umfasst auch die Vielfalt der Ökosysteme, also der verschiedenen Lebensräume und Lebensgemeinschaften wie Wälder, Wüsten oder Feuchtgebiete. Es geht um die Beziehungen zwischen Lebewesen, um Stoffkreisläufe, um Wechselwirkungen. Diese globale Komplexität befindet sich in einem empfindlichen Gleichgewicht, das die Nachhaltigkeit und Widerstandsfähigkeit von Ökosystemen gewährleistet. Der Verlust dieser biologischen Vielfalt droht solche komplexen ökologischen Netzwerke zu zerstören – und damit nicht nur die Lebensgrundlage von Specht, Biber und Biene, sondern auch unsere eigene.

 
 

Der Verlust und das Leugnen

Es gibt Dinge, die kann man sich nur schwer vorstellen – wie es sein wird, wenn man tot ist; dass sich das Universum ununterbrochen ausdehnt; Unendlichkeit; dass die Menschheit ausstirbt; Gott. Das sind alles Dinge, die zu einem unkonkreten, unüberblickbaren Haufen in unseren Gehirnen verknotet werden. Dinge, bei denen sich keine richtigen Bilder auftun können, weil sie zu abstrakt für uns sind.

Der Philosoph Immanuel Kant hat Phänomene, die sich der unmittelbaren menschlichen Erfahrung entziehen, als "transzendental" bezeichnet. Das bedeutet, dass sie jenseits unserer sinnlichen Wahrnehmung liegen und nur durch reines Denken erfasst werden können. Was demnach jenseits unserer empirischen, also irgendwie messbaren und erfahrbaren Erkenntnisfähigkeit liegt, kann nicht gewusst, sondern nur geglaubt werden. Und es gibt Dinge, an die will man lieber nicht glauben.

Obwohl es sich um etwas Erfahrbares und Messbares handelt, fühlt sich der Verlust der biologischen Vielfalt für viele genau so weit weg wie die oben genannten Beispiele an. Für mich ist das menschlich und psychologisch nachvollziehbar. Wenn man hört: Stell dir vor, die Eisbären sterben aus. Das kann man sich vorstellen. Man hat Bilder im Kopf, ist vielleicht traurig, bedrückt. Man sieht leere Eiswüsten vor sich, sieht den letzten Eisbär in einem viel zu warmen Zoo vor sich hin altern.  Wenn man hört: Der fortschreitende Verlust der Biodiversität wird irgendwann dazu führen, dass die Menschheit zu einer bedrohten Art wird. Leere Leinwand im Kopf. Keine Bilder. Bitte was?

 
 

Unsere menschliche Psyche, die es aus Gründen des Selbstschutzes ablehnt, über Sterblichkeit oder Endlichkeit nachzudenken, schreckt natürlich auch davor zurück, sich mit der Möglichkeit eines tatsächlichen Aussterbens auseinanderzusetzen. Verleugnung ist ein üblicher psychologischer Abwehrmechanismus, um sich vor unbequemen Wahrheiten oder Realitäten zu schützen. Wenn wir verdrängen, schaffen wir uns einen Puffer gegen unsere Ängste. Eigentlich eine gute Sache. Aber wenn dieser Schutzmechanismus angesichts existenzieller Bedrohungen aktiviert wird, führt das natürlich zu Schwierigkeiten. Er hindert uns daran, das eigentliche Problem – die Gefahr! –  zu erkennen und entsprechend zu handeln.

Wir kennen das aus anderen Bereichen. Wenn man sich nicht traut, den Brief zu öffnen, weil er schlechte Nachrichten enthält – die aber immer schlimmer werden, je länger man sich nicht darum kümmert. Der Zahnarztbesuch, den man immer weiter aufschiebt, während sich die Karies durch den Zahn frisst. Die Erkenntnis, dass man kein Geld mehr hat; jetzt noch schnell etwas kaufen, das das schlechte Gefühl vertreibt. Gibt ja Ratenzahlung. Die Hausarbeit, deren Abgabetermin immer näher rückt.

Im Zusammenhang mit dem Biodiversitätsverlust gibt es verschiedene Formen der Verweigerung, von der völligen Ablehnung wissenschaftlicher Erkenntnisse bis hin zu apathischem Desinteresse. Letzteres kann ich gut verstehen. Wenn jemand, wie viele Menschen, mit Existenzängsten kämpft, neben dem Hauptjob noch mehrere Nebenjobs ausübt und Kinder zu versorgen hat, ist die ständige Sorge um das finanzielle Überleben allgegenwärtig. Da kann man nicht erwarten, dass sich diese Menschen in ihrer Freizeit noch brav und ausführlich über Biodiversität informieren.

Darüber hinaus gibt es noch andere Gründe, warum die Beschäftigung damit so schwer fällt – auch die Politik bekommt es nicht hin, denn auch die besteht ja aus Menschen. Und die Gehirne unserer Politikerinnen und Politiker sind genau so anfällig für Verdrängung, wie alle anderen auch.

Warum es so schwer ist, unangenehmen Themen ins Auge zu blicken

Eine Freundin von mir ist ebenfalls Biologin und forscht wirklich intensiv und mit Leidenschaft zum Klimawandel. Sie liebt die Natur, will sie schützen. Als Ausgleich zu ihrem sehr fordernden Beruf reist sie gerne mit dem Flugzeug in weit entfernte Länder; schaut sich den Regenwald in Brasilien an, die Pyramiden von Gizeh, spannt zwei Wochen an Balis Stränden aus. Außerdem liebt sie Steak, und sie sagt immer Sachen wie: Na ja, so oft esse ich das Steak ja auch nicht. Oder: Ja, ich fliege viel, dafür habe ich kein Auto.

Das nennt man kognitive Dissonanz, und niemand ist frei davon. Ja, wirklich niemand – auch ich nicht. Ich setze mich sehr für Umweltschutz ein, mache keine Flugreisen, nutze Öffis und Fahrrad. Am liebsten bin ich in der Natur unterwegs, und meistens mit meinem Kameraequipment. Wo andere eine Kamera haben, habe ich vier, wo andere drei oder vier Objektive haben, habe ich die auch – pro Kamera. Für deren Akkus, von denen ich eine Menge habe, werden furchtbare Umweltsünden begangen, genau so wie für die anderen Bauteile der Geräte. Hätte es nicht auch eine Kamera getan? Klar, aber ich liebe Fotografie halt so sehr und gönne mir den umweltzerstörerischen Luxus, mich da so auszuleben, wie ich Lust habe. Dabei sage ich mir: Dafür fahre ich kein Auto, fliege nicht, esse kein Fleisch. Spiele es runter, auch vor mir selbst. Kognitive Dissonanz eben.

 
 

Wir erleben das jeden Tag in der Politik oder auch bei uns zu Hause. Ja, wir brauchen Umweltschutz, ja, wir müssen etwas gegen den Klimawandel tun! Unsere Regierungen sind Papiertiger, wenn es darum geht, aktiv zu werden. Es werden Konferenzen abgehalten, Dokumente verfasst, Verträge unterzeichnet, es herrscht großer Aktionismus. Dass die Verträge und Ziele nie eingehalten werden? Geschenkt. Aber wir versuchen es wenigstens, oder? Gleichzeitig subventionieren wir die Milchindustrie – einen der größten Klimakiller überhaupt – mit Milliarden, weil sie ein Produkt in Mengen herstellt, für das es hier vor Ort keine Abnehmer gibt. Wir planen Offshore-Windparks, um die Energiewende zu schaffen, und blenden dabei völlig aus, dass wir damit riesige Meeresgebiete zum Beispiel für Wale unbewohnbar machen, was einen ungeahnten Dominoeffekt haben kann. Etwas gegen den Klimawandel und gleichzeitig fürs Artensterben getan, aber wir können Windräder ja nicht irgendwo aufstellen, wo sie uns die Sicht verschandeln, oder? Wir machen uns Sorgen, weil die Gesellschaft immer älter wird, legen aber den Familien, vor allem den Müttern, jeden Stein in den Weg, den wir finden können. Wollen uns gegen die steigende Kinderarmut einsetzen, kürzen Leistungen. Wir setzen uns für Straßenhunde ein, spenden für den Tierschutz und essen Kalbfleisch.

Das alles geschieht, weil wir Menschen sind. Weil wir oft in Gleichzeitigkeiten leben, in denen sich mehrere Informationen völlig widersprüchlich gegenüberstehen und wir nicht wissen, wie wir uns jetzt verhalten sollen, weil sie für uns gleich wichtig, gleich wahr sind. Weil das alles schwer zu ertragen ist und weil niemand perfekt ist. Weil wir keine Maschinen sind, im Gegenteil: Wir haben Emotionen, Wünsche, Sehnsüchte, Ängste, und all das macht es uns schwer, rein faktenbasierte Entscheidungen zu treffen. Und es wäre auch nicht immer richtig. Wir brauchen Empathie, Moral und Ethik, um nicht in eine Gesellschaft zu kippen, in der Einzelne oder Schwächere nichts mehr zählen.

Dann ist da noch die Perspektive des Klimaschutzes.

Wir wissen, dass es uns langfristig besser geht, wenn wir mehr Sport treiben und uns gesund ernähren. Das machen wir auch eine Zeit lang – wir stehen um sieben Uhr auf, um vor der Arbeit eine Runde zu joggen, wir packen Salat und Tofu in den Einkaufskorb. Das geht drei, vier Tage gut, vielleicht auch drei, vier Wochen. Aber dann kommt die Erkenntnis, dass sich sichtbare Erfolge nicht von heute auf morgen einstellen. Ja, ich habe heute mein Verhalten geändert, aber das Ergebnis sehe ich vielleicht erst in einem Jahr. Was habe ich jetzt davon? Man lebt nur einmal. Was, wenn ich morgen vom Bus überfahren werde? Irgendwann setzen die Laufschuhe Staub an, der Job ist auch sehr stressig, lieber jeden Schlaf nehmen, den man kriegen kann. Langsam schleichen sich auch wieder Wiener Würstchen und Schokolade in den Einkaufskorb. Ich soll in einem Jahr sportlicher und gesünder sein? Das kann ich mir nicht vorstellen, zu weit weg, zu abstrakt.

 
 

Dasselbe gilt für den Umweltschutz. Um wirklich einen Unterschied zu machen, um das Tempo der menschengemachten Erderwärmung und des Artensterbens irgendwie zu verlangsamen, müssten wir sehr unangenehme Maßnahmen ergreifen und diese dann jahrzehntelang durchhalten, bis wir ein Ergebnis sehen. Und das Ergebnis ist nicht ein „wow, stimmt, jetzt ist alles besser“, sondern ein „es ist so wie jetzt, nur zum Glück ist es durch die Maßnahmen nicht schlimmer geworden“. Diese „Belohnung“ schmeckt schal, fühlt sich an, als wäre nichts besser geworden. Und dafür die ganze Mühe? Damit alles so bleibt wie es ist? Ist es jetzt nicht eigentlich gut, sollten wir nicht zufrieden sein? Dass es ohne die Maßnahmen schlimmer wäre – unvorstellbar, zu abstrakt. Wie soll dieses „schlimmer“ aussehen? Kann ich mir nicht vorstellen, sorry. Dass es für viele Menschen auf der Südhalbkugel schon schlimmer geworden ist, dass es schon nicht mehr gut ist? Dass dort schon Kriege um Wasser und Ressourcen geführt werden? Geschenkt. Das ist da unten, das sind die anderen. Jahrhundertelanger Kolonialismus und rassistische Vorstellungen über Kulturen weiter südlich schlagen den Nagel auf den Sargdeckel. Nicht unser Problem, ich spende jedes Weihnachten für Brot für die Welt, lasst mich in Ruhe.

Wir sind starr vor Angst

Es gibt noch viele andere Gründe, warum wir es als Gesellschaft einfach nicht schaffen, das „Richtige“ zu tun. Aber einer ist auf jeden Fall, dass eine repräsentative Demokratie, in der wir hier in Deutschland leben, eine Masse von vielen Menschen mit vielen unterschiedlichen Zielen und Prioritäten ist. Das ist an und für sich gut, Demokratie ist für mich alternativlos. Wir brauchen sie und müssen sie schützen. Dennoch macht vieles langwierig und unglaublich träge – ein echtes Dilemma. Wie sagt man so schön klischeehaft: Wo Licht ist, ist auch Schatten. Vor allem in Zeiten von Social Media, in denen jeder seine Meinung nach außen tragen kann, werden Politikerinnen und Politiker in Sorge um ihre Wahlergebnisse in Angststarre versetzt. Jetzt nichts falsch machen, nicht die eine oder andere Seite verärgern, nicht zu viel verändern, keine unangenehmen Entscheidungen treffen, sonst werde ich abgewählt. Heute nochmal das FCKW-Verbot durchsetzen, um das Ozonloch zu schließen, wie wir es vor ein paar Jahrzehnten so konsequent geschafft haben? Unvorstellbar. Ich persönlich denke nicht, dass es uns heutzutage gelingen würde.

 
 

Momentan liest man oft: Keine Klimadiktatur! Doch die Wahrheit ist:

Die „Klimadiktatur“ wird kommen – und zwar durch den Klimawandel selbst.

Dem Weltklima sind Wahlergebnisse völlig egal. Dem Biodiversitätsverlust auch. Weil wir als Gesellschaft nicht in der Lage sind, die notwendigen, unbequemen Entscheidungen zu treffen, lassen wir alles weiterlaufen. Wie die Angstpost, die wir nicht öffnen. Wie die Karies, die sich inzwischen von einem Backenzahn zum nächsten ausgebreitet hat. Es hat keinen Sinn, die Augen zu verschließen und sich zu wünschen, dass es nicht so wäre. Magisches Denken hilft uns nicht weiter. Weil wir keine Entscheidungen treffen wollen, die unseren hohen westlichen Lebensstandard ein wenig unbequemer machen, werden bald Entscheidungen für uns getroffen, die unseren hohen westlichen Lebensstandard unmöglich machen. Dann werden wir in unseren überfluteten Häusern sitzen und denken: Hätten wir doch die Energiewende zwanzig Jahre früher angepackt. Hätten wir doch endlich mal auf die Bauwirtschaft geschaut, die mit Beton und Co. die größte Dreckschleuder überhaupt ist und völlig unter dem Radar fliegt, während wir über SUVs und Flugreisen jammern. Hätten wir doch nur auf die Wissenschaft gehört.

Ecological Grief

Ja, die Wissenschaft. Das ist der Grund, wieso ich mich überhaupt aufgerafft habe, diesen viel zu langen Text zu schreiben. Cunsolo & Ellis definieren Ecological Grief (übersetzt: „ökologische Trauer” oder “Umwelttrauer”) in ihrem 2018 erschienenen Paper so:

"Der Kummer, der im Zusammenhang mit erfahrenen oder erwarteten ökologischen Verlusten empfunden wird, einschließlich des Verlusts von Arten, Ökosystemen und bedeutungsvollen Landschaften aufgrund akuter oder chronischer Umweltveränderungen."

Der psychische Druck und die Belastung sind immens und können zu schweren Erkrankungen wie Depressionen und Angststörungen führen. Besonders gefährdet sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die vor Ort forschen, aber auch Menschen, die einen engen Bezug zur Natur haben – zum Beispiel indigene Kulturen. Auch Menschen, die gerne wandern, tauchen, bergsteigen, die Natur fotografieren oder auf dem Land leben, können stark betroffen sein.

Diese Woche war ich in einem meiner aktuellen Forschungsgebiete, einem Moor hier in Hamburg. Während ich meine Messungen durchführte, hielt ein älterer Herr mit seinem Fahrrad an und fragte mich, was ich da mache. Ich erklärte ihm, dass ich Untersuchungen zur Biodiversität durchführe. Daraufhin erzählte er mir, dass er Jahrgang 1940 sei und schon als Kind im Moor gespielt habe. Damals sei es ringsum noch grün und unbebaut gewesen, es habe viel Sonnentau gegeben (heute unvorstellbar), Molche, Salamander, Störche. Er hielt inne, wir schwiegen beide, und es sah so aus, als ob er nach Worten rang, überwältigt von seinen Gefühlen. Er lächelte dann jedoch nur, nickte mir zu und wir verabschiedeten uns.

 
 

Ecological Grief ist etwas, das ich gut kenne. Ich liebe die Natur, schon immer, und die Umweltzerstörung ist so schwer zu ertragen. Ich bin sogar in die Wissenschaft zurückgekehrt, obwohl ich das nie wollte. Einfach, weil es so viel zu tun gibt. Weil ich das Gefühl habe, irgendwas machen zu müssen.

Für viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – mich eingeschlossen – ist es unerträglich zu sehen, wie Erkenntnisse ignoriert werden. Wir haben die Daten und Fakten, die „Beweise“. Wir wissen, was notwendig ist. Die Politik lobt uns, versichert uns, wie wichtig das ist, was wir tun – und dann passiert so gut wie nichts. Und wenn, dann zu wenig und zu spät. Die Erde erlebt derzeit das sechste Massenaussterben ihrer Geschichte, diesmal vom Menschen verursacht. Damit einher geht ein rapider Rückgang der Produktivität unserer globalen Ökosysteme. Die Biosphäre wird durch menschliches Handeln irreversibel geschädigt. In ihrer wissenschaftlichen Veröffentlichung zur Definition des Anthropozän identifizieren Francine McCarthy und ihr Team den starken Anstieg der Plutoniumisotope 239 und 240 ab etwa 1948 als den zentralen „Marker“. Dieser Anstieg ist auf den Fallout der Atombombenexplosionen zurückzuführen, die dieses von Natur aus extrem seltene Element zum ersten Mal in der Erdgeschichte in großen Mengen freigesetzt haben. Kurz gesagt: Der geologische Fußabdruck, den wir Menschen in den Gesteinsschichten (und damit in der Erdgeschichte) hinterlassen, ist die Atombombe – sofern der Vorschlag dieser Forschungsarbeit akzeptiert wird. Das ist unser Erbe.

Den Folgen unseres Handelns als Spezies stehen die Forschenden von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Es ist, als würde man zusehen, wie jemand ermordet wird, aber die Polizei tut nichts und hört einfach nicht zu. Und doch ist es real. Man hat es direkt vor Augen. Man hört die Schreie, man riecht das Blut. Man denkt: Mein Gott, was braucht es noch? Man bekommt ein Formular, das soll man bitte ausfüllen. Nein, es muss jetzt jemand kommen, wir müssen das Opfer retten! Bitte einfach das Formular ausfüllen, irgendwann wird sich schon jemand darum kümmern, also wahrscheinlich, vielleicht, eventuell. Mal sehen.

 
 

Ich habe Kolleginnen und Kollegen weinen sehen, nachdem sie von Exkursionen zurückkamen. Kenne Leute, die die Forschung verlassen haben, weil sie es nicht mehr ausgehalten haben, jeden Tag dieses Elend zu sehen und zu verwalten. Viele meiner forschenden Freundinnen und Freunde trinken häufiger Alkohol als früher. Ich bin selber damals deshalb aus der Wissenschaft rausgegangen, weil ich mir nicht vorstellen konnte, das mein Leben lang aushalten zu können. Ich hatte mehrere Jobs, jetzt bin ich Autorin. Eigentlich wollte ich nur in Ruhe Bücher schreiben, doch jetzt bin ich zurück hinterm Mikroskop. Ehrlich gesagt weiß ich noch nicht, was ich davon halten soll. Die Zeit wird es zeigen.

Der Meeresbiologe Steve Simpson berichtete 2020 in einem Guardian-Interview Folgendes:

Als wir 2006 nach einer großen Korallenbleiche zum Great Barrier Reef zurückkehrten, hatte es sich in einen Friedhof verwandelt. (…) Es war absolut niederschmetternd, die Korallen, an denen wir so lange geforscht hatten und die wir liebten, nun tot zu sehen. Ich hatte gerade einen Doktoranden eingestellt, der das Verhalten von Fischen untersuchen sollte. In der Zeit zwischen seiner Einstellung und dem Beginn der ersten Feldsaison starb das Great Barrier Reef. 80 Prozent der Korallen, an denen wir arbeiteten, waren verschwunden, und die meisten Fische, die dort gelebt hatten, waren abgewandert. Ich hatte ihm beim Vorstellungsgespräch versprochen, dass sein Besuch dort unglaublich werden würde. Am Ende war es nur ein Friedhof, ein historisches Zeugnis des früheren Lebens im Korallenriff. (…) Wir kommen immer gebrochener von unseren Einsätzen zurück. Man kann entweder denken: Ich kann das nicht, ich muss meine wissenschaftliche Arbeit ändern, oder man kann versuchen, all den Schmerz, den man empfindet, in sich hineinzufressen. Viele Forschende machen letzteres (…).
— Steve Simpson

Was tun?

Es ist wichtig, dass wir nicht länger darüber schweigen, wie wir uns dabei fühlen. Dass auch wir Forschenden uns austauschen und daran arbeiten, uns gegenseitig zu unterstützen. Wir müssen Wege finden, wissenschaftliche Erkenntnisse nicht nur als traurige Nachrichten zu sehen, die wir uns gegenseitig als Horrorgeschichten erzählen.

Aber das ist so schwierig. Wenn ich Kolleginnen und Kollegen frage, ob sie noch Hoffnung haben, dass wir es schaffen, sagen sie: Nein. Und nicht nur einige, sondern eigentlich alle in meinem Fachbereich. Mir geht es genau so. Aber wir sind uns auch einig: Dass man vieles noch schlimmer machen kann, wenn man sagt: Na gut, dann ist es jetzt auch egal. Aufgeben ist keine Option, egal wie gering die Chancen sind. Dabei hätten wir theoretisch so, so gute Aussichten, wenn wir uns gemeinsam anstrengen würden. Unsere Lebensqualität könnte noch mehr steigen, nicht nur für uns, sondern auch für all die Menschen aus ärmeren Ländern, die wir hier im Westen gerne ausbeuten und dann vergessen. Aber ach, Menschen. Wie kann eine Spezies nur so genial und gleichzeitig so saudoof sein, es will mir nicht in mein dummes kleines Menschenhirn.

Jetzt erwarten viele hier vermutlich einen Appell. Ich sag, wie es ist: Ich fühle mich wie ein müder Papagei.

Die Daten sind klar. Die Fakten liegen alle auf dem Tisch. Wir wissen, was zu tun ist. Die Politik ist bestens informiert. Es wurde und wird alles gesagt. Man kann die Umweltzerstörung nicht stoppen, indem man Bambuszahnbürsten kauft und die Leute bittet, im Schwarzwald Urlaub zu machen. Der einzig wirkmächtige Hebel liegt in den Händen der Politik, weil nur sie die Wirtschaft in einem Umfang beeinflussen kann, der einen Unterschied macht.

Vielleicht teilen Menschen diesen Text, schreiben dazu: Deshalb müssen wir die Biodiversität schützen! Vielleicht lesen den Text sogar Politikerinnen und Politiker, die ihn ebenfalls teilen, und ebenfalls sagen: Biodiversitätsschutz ist uns ein wichtiges Anliegen! Wir klopfen uns dann alle auf die Schulter, versichern uns, dass uns das alles wirklich wichtig ist, also so richtig. Und dann gehen wir auf Instagram und bestellen parallel noch schnell was in nem Onlineshop (und ich kleiner, unperfekter Mensch bin hier mitgemeint) und sinken wieder in den angenehmen Schlummer, in dem wir alles verdrängen.

 
 

Klinge ich desillusioniert? Ja. Vermutlich, weil ich es bin. Wenn mich Menschen dieser Tage fragen: Glaubst du, wir schaffen es, das Ruder noch rechtzeitig rumzureißen?, frage ich: Schlaue Antwort oder ehrliche Antwort? Wenn eine schlaue Antwort gefordert wird, sage ich: Es besteht immer Hoffnung, wir Menschen haben schon unvorstellbare andere Sachen geleistet, und wenn wir endlich alle an einem Strang ziehen, kriegen wir das hin! Es ist so viel Potenzial da! Wenn man nach der ehrlichen Antwort fragt, sage ich: Nein. Denn wir haben noch nie irgendein Ruder rumgerissen, bevor es so richtig, richtig schlimm wurde. Man muss nur auf die Weltkriege schauen, dann weiß man Bescheid. Wir sind Trottel.

Dieser Text ist erstens viel zu lang, zweitens überhaupt nicht wholesome und drittens persönlich. Das sind meine Gedanken, das ist meine momentane Gefühlslage, die nicht allgemeingültig ist, zum Glück. Es gibt viele hoffnungsvollere Menschen als mich. Aber ich bin auch nicht ganz ohne Hoffnung. Ich glaube nicht, dass wir es schaffen, aber irgendwie hoffe ich es. Letztendlich bin ich auch nur ein Mensch, und zwischen all den dunklen Gedankenwolken in mir ist immer noch dieses kleine glimmende Leuchtfeuer, das einem Hoffnung gibt, egal wie gering die Chancen sind. Die Menschen sind seltsam, nicht wahr? Am Ende bleibt mir sowieso nichts anderes übrig. Ich forsche, ich verwalte mit zehntausenden anderen Forschenden das Artensterben, ich katalogisiere; dazwischen weine ich manchmal, schimpfe und fluche, aber ich hoffe auch immer wieder, weil ich sonst komplett verrückt werde.

Traurig, wenn einem nur die Hoffnung bleibt.

Gut, wenn einem wenigstens die Hoffnung bleibt.

 

Falls das noch nicht deprimierend genug war und du Lust hast, über das Artensterben in (trauriger, lustiger und ein bisschen gruseliger) Romanform zu lesen, kann ich dir meinen neuen Roman empfehlen. Er heißt “ENDLING” und kommt am 24. November raus. Er ist jetzt schon vorbestellbar, und am meisten habe ich davon, wenn du ihn im Shop der Autorenwelt vorbestellst. Das geht hier.

Und wenn du diese Bestellung bis zum 05. November machst, gibt es das Buch sogar signiert.

Wenn du mehr über Biodiversität und Natur erfahren willst, empfehle ich dir noch meine beiden Bücher “Biodiversität, 100 Seiten” und “Schreibers Naturarium”. Letzteres ist sogar wholesome – versprochen.


Quellen

Usher, K., Durkin, J., & Bhullar, N. (2019). Eco-anxiety: How thinking about climate change-related environmental decline is affecting our mental health. International Journal of Mental Health Nursing, 28(6), 1233–1234. https://doi.org/10.1111/INM.12673

How scientists are coping with ‘ecological grief’ | Science | The Guardian. (n.d.). Retrieved October 20, 2023, from https://www.theguardian.com/science/2020/jan/12/how-scientists-are-coping-with-environmental-grief

Cunsolo, A., & Ellis, N. R. (2018). Ecological grief as a mental health response to climate change-related loss. Nature Climate Change 2018 8:4, 8(4), 275–281. https://doi.org/10.1038/s41558-018-0092-2

Rosol, C., Schäfer, G. N., Turner, S. D., Waters, C. N., Head, M. J., Zalasiewicz, J., Rossée, C., Renn, J., Klingan, K., & Scherer, B. M. (2023). Evidence and experiment: Curating contexts of Anthropocene geology. Anthropocene Review. https://doi.org/10.1177/20530196231165621

Crawford Lake designated as “golden spike” | Max-Planck-Gesellschaft. (n.d.). Retrieved October 20, 2023, from https://www.mpg.de/20614579/crawford-lake-anthropocene

McCarthy, F. M. G., Patterson, T., Head, M. J., Riddick, N. L., Cumming, B. F., Hamilton, P. B., Pisaric, M. F. J., Gushulak, C., Leavitt, P. R., Lafond, K. M., Llew-Williams, B., Marshall, M., Heyde, A., Pilkington, P. M., Moraal, J., Boyce, J. I., Nasser, N. A., Walsh, C., Garvie, M., … McAndrews, J. H. (2023). The varved succession of Crawford Lake, Milton, Ontario, Canada as a candidate Global boundary Stratotype Section and Point for the Anthropocene series. Anthropocene Review. https://doi.org/10.1177/20530196221149281

Comtesse, H., Ertl, V., Hengst, S. M. C., Rosner, R., & Smid, G. E. (2021). Ecological Grief as a Response to Environmental Change: A Mental Health Risk or Functional Response? International Journal of Environmental Research and Public Health, 18(2), 1–10. https://doi.org/10.3390/IJERPH18020734

Offshore-Windkraft in Deutschland - NABU. (n.d.). Retrieved October 20, 2023, from https://www.nabu.de/natur-und-landschaft/meere/offshore-windparks/index.html

Biodiversity - Search Results - PubMed. Retrieved March 9, 2022, from https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/?term=biodiversity&timeline=expanded

Weiter
Weiter

Insektenfreundliches, unkompliziertes Gärtnern mit heimischen Pflanzen